Wissenschaftliche Fragestellung
Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Jahrtausendwende lässt sich in Frankreich und Deutschland eine (zwar alles andere als lineare, aber doch reale) fortschreitende Liberalisierung der gesetzlichen Regelungen und der sozialen Praxis der Geburtenkontrolle konstatieren. Geht jedoch mit dem institutionellen Wandel und dem Wandel der sozialen Praxis auch ein Wandel der Wertvorstellungen einher? Wenn ja: wie lässt er sich beschreiben, was sind seine Ursachen, Verlaufsmuster und längerfristigen Entwicklungstendenzen? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede gibt es zwischen Frankreich und Deutschland, und wie lassen sie sich erklären?
Ausgehend von der Annahme, dass Werte auf diskursiver Ebene verhandelt werden, nimmt mein Dissertationsprojekt die immer wiederkehrenden öffentlichen Debatten über Empfängnisverhütung, Abtreibung und Sterilisation als Schauplätze und Indikatoren gesellschaftlichen Wertewandels in den Blick.
Als Quellengrundlage der Untersuchung dienen insbesondere Parlamentsdebatten, Gesetzestexte, Publikationen gesellschaftlicher Akteure (Parteien, Kirchen, Ärzteverbände, feministische und andere Organisationen, Familienplanungseinrichtungen, Pro- und Anti-Abtreibungsgruppen etc.) sowie Beiträge aus Presse, Rundfunk und Fernsehen.
Die hierbei gewählte Verknüpfung einer diachronen mit einer synchronen Untersuchungsperspektive (Ländervergleich über den Zeitraum 1919-2001) soll ein besseres Verständnis vom Wertewandel als Teilaspekt der umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse innerhalb der industriegesellschaftlichen Moderne und Postmoderne ermöglichen.
Wissenschaftliche Relevanz
Bisher sind die Themen Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung in der Geschichtswissenschaft vornehmlich als Gegenstand institutionell-rechtlichen Wandels und des Wandels sozialer Praktiken untersucht worden. Die wenigen existierenden Studien zur Geschichte der öffentlichen Diskussionen über Geburtenkontrolle sind bezüglich eines diskursiv lokalisierbaren Wandels der Wertvorstellungen wenig aussagekräftig:
Einerseits konzentrieren sich diese Arbeiten jeweils nur auf sehr kurze Zeiträume und können daher nicht viel mehr als rein statische Momentaufnahmen der jeweiligen Diskurse liefern. Doch erst wenn man einen längeren Zeitraum untersucht, wird es möglich, auch diskursive Verschiebungen, Brüche und Kontinuitäten zu identifizieren und somit die dynamische Wechselwirkung zwischen Werthaltungen und gesellschaftshistorischem Kontext in den Blick zu nehmen.
Hinzu kommt, dass die bisher vorliegenden Studien sich innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen bewegen, während das Diskutieren über Geburtenkontrolle, sowie die darin zum Ausdruck kommenden gesellschaftlich-kulturellen Umwandlungsprozesse ein internationales Phänomen darstellen, das als solches erforscht werden sollte.
In diesem Sinne soll meine Arbeit sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht den Untersuchungshorizont erweitern und auf diese Weise erst fundierte Aussagen über das Phänomen des Wertewandels im Zusammenhang mit dem Thema Geburtenkontrolle treffen.
Zum Ländervergleich
Der Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland bietet sich aus verschiedenen Gründen hier besonders an: einmal, weil in den Diskussionen über Geburtenkontrolle häufig wertend auf das Nachbarland Bezug genommen wird. Aber auch, weil die Chronologie der gesellschaftspolitischen Debatten in beiden Ländern sehr ähnlich verlief. Einen gemeinsamen Hintergrund dieser Debatten bilden insbesondere die beide Ländern prägenden Weltkriegserlebnisse, sowie gesellschaftliche Entwicklungen der Moderne (Emanzipation der Frauen, Säkularisierung, „Sexuelle Revolution“, demographischer Wandel). Neben diesen gemeinsamen Rahmenbedingungen gibt es wichtige Unterschiede zwischen beiden Ländern, die den Vergleich erst fruchtbar machen können. Exemplarisch sei hier das unterschiedliche Verhältnis von Staat und Kirche genannt. Es ist die hier dargelegte Mischung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Rahmenbedingungen der Debatten über Geburtenkontrolle, die den vergleichenden Ansatz auch zu einem effizienten analytischen Werkzeug macht, welches ich in meiner Arbeit nutzen möchte.
Theoretischer Rahmen und methodische Umsetzung
Als theoretischer Rahmen dient mir zunächst das sozialphilosophische Modell von Hans JOAS (1997) demzufolge Wertewandel als Ergebnis einer mehrdimensionalen kausalen Wirkungsgefüges von Wertüberzeugungen, Institutionen und sozialer Praxis zu verstehen ist
Die sprachliche Verortung gesellschaftlicher Wertüberzeugungen lässt sich am besten auf der Grundlage diskurstheoretischer Überlegungen in der Tradition Michel FOUCAULTS erfassen (Foucault 1966, 1983; Jäger 1993, Sarasin 1996, Landwehr 2008). Diese fußen auf der Annahme einer wechselseitigen, dynamischen und „machtgetränkten“ Konstituierung von Individuum, Diskurs und sozialer Realität. Unter dem Begriff Diskurs verstehe ich eine institutionell gefestigte Sprachpraxis zu einem bestimmten Themenkomplex, hier der Geburtenkontrolle, die sich in den jeweiligen historisch identifizierbaren Diskussionsereignissen (z.B. die Beiträge zur öffentlichen Debatte über die Legalisierung der Empfängnisverhütung im Frankreich der 1960er Jahre) manifestiert, sowie die Regeln (Kategorisierungen, Ordnungsbegriffe, Wertzuschreibungen und –hierarchisierungen etc.) die dieser Sprachpraxis zugrunde liegen. Diese sollen durch Quellenarbeit identifiziert und ihre normativen Implikationen analysiert werden.
Der historische Ländervergleich dient mir als zentrale methodische Strategie. Im Sinne der „historischen Vergleichstheoretiker“ HAUPT/KOCKA (1996) möchte ich vor allem das besondere Erklärungspotenzial des vergleichenden Ansatzes nutzen. Konkret bedeutet dies, zu überprüfen, inwiefern die vorgefundenen Ähnlichkeiten und Unterschiede in den deutschen und französischen Wertediskursen über Geburtenkontrolle in Korrelation stehen mit Ähnlichkeiten und Unterschieden des jeweiligen gesellschaftshistorischen Kontextes. Anhand solcher Korrelationen lassen sich plausible Erklärungen für die historische Entstehung und Entwicklung, aber auch für die gesellschaftliche Bedeutung, Funktion und Wirkung der jeweiligen Wertediskurse über Geburtenkontrolle entwickeln.
Die Bearbeitung von repräsentativen Fallbeispielen soll eine realistische Umsetzbarkeit des Projekts ermöglichen.
Kontakt: Ann-Katrin Gembries