Im 20. Jahrhundert haben sich nicht nur die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland fundamental gewandelt, sondern auch die allgemein akzeptierten grundlegenden und handlungsleitenden Orientierungsstandards auf kollektiver und individueller Ebene: in Bezug auf Privatheitsformen, Familien und Geschlechterbeziehungen ebenso wie im Bereich von Erziehung und Bildung, Einstellungen zur Arbeit, Militär und Zivilität, Staat und Nation, im Hinblick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. Gemeinschaft bis hin zu Religion und Kirche oder Wirtschaftsdenken und Unternehmenskultur.
Die Bedeutung dieses grundlegenden Wertewandels ist seit den 1970er Jahren zunächst von den zeitgenössischen Sozialwissenschaften untersucht worden. Der zeitliche Rahmen beschränkte sich dabei, bedingt durch Erkenntnisinteresse und methodisches Instrumentarium, auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise ließen sich weder Aussagen darüber machen, ob es sich – wie dennoch vorausgesetzt wurde – bei dem Wertewandel seit den 1960er Jahren um einen historisch einzigartigen Vorgang, ja Bruch handelte; noch ließ sich eine Einordnung in längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen vornehmen. Inzwischen wird dieses Defizit seitens der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung selbst beklagt, kann von ihr allerdings allein schon wegen der methodischen Abhängigkeit von der Survey-Forschung nicht behoben werden.
Seitens der Geschichtswissenschaften wiederum ist die überragende Bedeutung des Wertewandels zwar immer wieder betont, das Phänomen aber, zumindest für das 20. Jahrhundert, noch nicht systematisch untersucht worden. Erste Forschungen liegen für die Frühe Neuzeit vor, und für das 19. Jahrhundert hat die historische Bürgertumsforschung die Entstehung und Veränderung der sogenannten „bürgerlichen Werte“ herausgearbeitet; für das darauffolgende Säkulum ist sie unterdessen fragmentarisch geblieben. Dabei handelt es sich bei dem von den Sozialwissenschaften ermittelten Wertewandel um Verschiebungen gerade in den Bereichen, die seitens der Bürgertumsforschung als Kernbereiche der „bürgerlichen Werte“ ausgemacht worden sind: Familie, Arbeitsethos und Leistungsbereitschaft, Bildung und Hochkultur, Selbständigkeit, Individualität und Gemeinwohlverpflichtung sowie Religiosität und Kirchlichkeit.
Das DFG-geförderte Mainzer Projekt, greift diese beiden losen Enden der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung einerseits und der historischen Bürgertumsforschung andererseits auf und verbindet sie in einer eigenen historisch-diachronen Perspektive: Wann, wie, wodurch und warum haben sich gesellschaftliche Wertsysteme verändert und welche Bedeutung haben Werte für den gesellschaftlich-kulturellen Wandel? Ist der „Wertewandel“ seit den 1960er Jahren ein qualitativ neuartiges Phänomen oder ist er ein Teil längerfristiger Wandlungsprozesse innerhalb der industriegesellschaftlichen Moderne? Im Zentrum steht die Frage nach der Entwicklung, nach Erosion oder Gestaltwandel „bürgerlicher Werte“ im 20. Jahrhundert, nach ihren Mechanismen und ihren Ursachen. Konzeptionell schließt das Projekt sowohl an das sozialphilosophische Werteverständnis von Hans Joas, der Werte in einem dreiseitigen wechselseitig kausalen Wirkungsgefüge mit sozialen Praktiken und Institutionen situiert, als auch an Erving Goffmans Rahmen-Analyse an.
Kontakt: Prof. Dr. Andreas Rödder (Leitung)
E-Mail: dietzb@uni-mainz.de
Zu den einzelnen Projekten:
Der Wandel familialer und familiärer Werte in Deutschland, 1880-1990
Deutsche und französische Wertediskurse über Geburtenkontrolle seit 1919
Familienpolitik in der Ära Kohl
Bildungskonzeptionen und Bildungspolitiken in der Bundesrepublik Deutschland