Edzard Reuter. Eine Biographie

Ziel des Forschungsprojekts ist eine geschichtswissenschaftliche Biographie Ernst Reuters. Dabei sollen anhand der Lebensgeschichte Edzard Reuters spezifische Aspekte der deutschen Wirtschafts-, Eliten- und Kulturgeschichte untersucht werden. Nicht als lineare Erfolgsgeschichte soll Edzard Reuters Leben erzählt werden, sondern als individualisierte Gesellschaftsgeschichte, in der ein Einzelner auf ganz spezifische Art und Weise die wechselnden Strukturen und Dynamiken des 20. und 21. Jahrhunderts durchlief, erlebte und mitgestaltete. Dabei wird immer zu fragen sein, inwiefern das Individuelle paradigmatisch für kollektive Phänomene ist.

Wie konnte ein Exilant und Sozialdemokrat in der westdeutschen Wirtschaft Karriere machen? Welche sozialgeschichtlichen und politischen Faktoren behinderten den Aufstieg und welche Faktoren förderten ihn? Wie berührte sich die Karriere mit der Eliten- und Personalkontinuität zwischen dem „Dritten Reich“ und der frühen Bundesrepublik? Wie ließ sich NS-Vergangenheit der Kollegen und ideelles Erbe des Vaters in Einklang bringen? Wie ist vor diesem Hintergrund die Integrationspolitik der 1950er- und 1960er-Jahre bei Daimler-Benz zu bewerten?

Anfang der 1970er Jahre kam es in den meisten Unternehmen zu einem Generationenwechsel in der Führungsspitze. Es rückte eine neue Alterskohorte in die Vorstandsetagen, die sich in der Terminologie der historischen Generationenforschung als ein Aufrücken der sogenannten „Flakhelfer-Generation“ beschreiben lässt. Was verband Reuter mit dieser Generation? Verband sich mit dem Generationenwechsel ein „Wertewandel“? Wurde die westdeutsche Wirtschaft in den 1970er Jahren liberaler? Und sozialgeschichtlich gefragt: War Reuters Aufstieg in den 1970er Jahren ein typischer Aufstieg?

Reuters wichtigste Karrierephase begann in den 1980er Jahren. In der Wirtschaftspresse und in den neuen Business Schools wurde in dieser Zeit ein neuer Manager-Typ gefordert: Perfektes Englisch, die Fähigkeit, in multinationalen Teams zu arbeiten und ein ökonomisches Denken, das nicht mehr in nationalen Märkten verhaftet war, galten als anzustrebende Fähigkeiten der Führungskräfte. Wie berührte sich diese Entwicklung mit Reuters finalem Aufstieg? Waren Kosmopolität, Unangepasstheit und Risikofreude Eigenschaften, die in die neue Zeit der beginnenden Globalisierung besonders gut passten? War Reuter ein Managervorbild? Welches Verständnis von Führung hatte er?

Edzard Reuters Zeit als Vorstandsvorsitzer von Daimler-Benz fällt in den Zenit einer ökonomischen Kultur, die mit den Stichworten „Deutschland AG“ oder „rheinischer Kapitalismus“ beschrieben werden. Gekennzeichnet ist diese durch das Netzwerk personaler Verflechtungen von Politik und Wirtschaft, von persönlichen Verbindungen zwischen Unternehmen und „Hausbanken“ sowie durch sozialstaatliche und gemeinwohlorientierte Aspekte. Aber wann, wie und warum verlor die „Deutschland AG“ an Stabilität? Wieso nahm die Bedeutung von sozialpartnerschaftlicher Führung und von enger Bindung an Stadt und Region für die westdeutschen Unternehmen ab und zogen stattdessen internationale Shareholder Value-Ideen als handlungsleitend in die Führungsetagen der deutschen Wirtschaft ein?

War Reuter somit ein Vertreter der „Deutschland AG“ und gleichzeitig an ihrer Auflösung beteiligt? Wie ist vor diesem Hintergrund seine umstrittene Diversifzierungsstrategie und der Umbau von Daimler-Benz zu einem „integrierten Technologiekonzern“ zu interpretieren? Was waren die Motive für diese Strategie, welche Rolle hatte die Industriepolitik und wer stellte sich warum dagegen? Welche Bedeutung kommt dem Epochenumbruch von 1989/90 für die Probleme der Konzernerweiterungsstrategie zu?

Das Forschungsprojekt widmet sich diesen Fragen. Auf der Basis einer umfassenden Archivrecherche soll die erste wissenschaftliche Biographie Edzard Reuters entstehen. Dabei soll das Buch sich auch an ein breiteres, historisch interessiertes Publikum richten, das mehr über die bundesdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte am Beispiel einer herausragenden Biographie erfahren möchte.

In diesem Sine ließe sich beispielsweise fragen, inwiefern zumindest die erste Phase von Reuters Karriere bei Daimler-Benz typisch für betriebsinterne Aufstiegskarrieren in westdeutschen Unternehmen in den 1960er und 1970er Jahren war. Oder es ließe sich fragen, wie Reuter die neue soziale Leitfigur „Manager“ verkörperte: wie erfüllte und prägte er den Symbolcharakter des Managers für eine ergebnisorientierte, marktwirtschaftlich-meritokratische Wissensgesellschaft?[1]

Und es wird gleichzeitig auch zu fragen sein, inwiefern das Individuelle der Lebensgeschichte Reuters im Kontrast zu kollektiven Phänomenen zu interpretieren ist (z.B. für die Exilzeit vs. Elitenkontinuität in deutschen Unternehmen; z.B. für die sozialdemokratische Herkunft vs. Prägungen im Nationalsozialismus). Für eine Biographie, die auch Aussagen über gesamtgesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen treffen möchte, gehören beide Aspekte zusammen. Was waren die Bedingungen der Möglichkeit des individuellen Erfolgs? Und welche Aussagen lassen sich anhand individueller Spezifika (der Exzeptionalität, des Außenseitertums etc.) über gesellschaftliche Normalität treffen?


[1] Vgl. Bernhard Dietz, Der Aufstieg der Manager. Wertewandel in den Führungsetagen der westdeutschen Wirtschaft 1949-1989, Berlin/Boston 2020.