Dissertationsprojekt (Formen der Erschöpfung in der Moderne)

Neurasthenie und Burnout
Formen der Erschöpfung in der Moderne

 

Das 21. Jahrhundert hat ein neues Bild der Erschöpfung hervorgebracht: Die Ikone des gebeugten Menschen, dessen Martyrium sich in einem sterilen Büroraum abspielt, den gesenkten Kopf auf die müden Hände gestützt. Der neue Name, der sich seit der Jahrtausendwende zunehmend für diese mit Arbeitsstress und Arbeitsbelastung assoziierten Erschöpfungszustände durchgesetzt hat: Burnout. Allerorten scheint der Befund klar: Unser Zeitalter ist ein Zeitalter der Erschöpfung und der Burnout ist unsere neue „Volkskrankheit“. Im populären Mainstream ebenso wie in der wissenschaftlichen Reflexion erlebte eine um die moderne Erschöpfung kreisende Gegenwartsdiagnostik seit Beginn des neuen Jahrhunderts einen regelrechten Boom. Ist Erschöpfung also das genuine Signum unserer Epoche? Ist unsere Gegenwart tatsächlich erschöpfter und erschöpfender als jede andere Zeit vor ihr?

Die gegenwärtigen Debatten um Erschöpfung und Burnout hat das Projekt zum Ausgangspunkt für eine historische Spurensuche genommen, die es in die Jahrzehnte vor und nach 1900 geführt hat. Auch zur letzten Jahrhundertwende beherrschte das Erschöpfungskonzept die öffentlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in ähnlich extensiver Weise. Diese gesteigerte Aufmerksamkeit fand ihren Ausdruck nicht zu Letzt in der Etablierung eines neuen Krankheitsbildes, das unter dem Namen Neurasthenie rasche Verbreitung fand. In einer intertemporalen Vergleichsanordnung wurden die beiden hochkonjunkturellen Krankheits- und Kulturphänomene Burnout (um 2000) und Neurasthenie (um 1900) wie zwei Folien über- und gegeneinander gelegt, und die Konturen ihrer inhaltlichen Unterschiede und strukturellen Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Das Ziel der Untersuchung stellte sich dabei als ein doppeltes dar. Dem Projekt war es erstens darum zu tun, die Phänomene aus einem linearen medizinwissenschaftlichen Interpretationsregister herauszulösen und ihre historisch-kulturell-gesellschaftliche Mehrdimensionalität herauszustellen sowie zweitens anhand der synchron wie diachron angelegten Analysen die historischen Transformationen des schwierigen und notorisch vagen Erschöpfungskonzepts nachzuzeichnen.

Dabei hat sich im Laufe der Untersuchung gezeigt: Als Artikulationsformen von Erschöpfung stellen sich Burnout und Neurasthenie als Phänomene dar, die davon leben, dass über sie gesprochen wird – auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und mit unterschiedlichsten begrifflichen, bildlichen und narrativen Mitteln. Sie erscheinen jeweils als Krankheitsbegriff, Symptompool, Leidensausdruck, Sprachformel und Zeitdiagnose in einem; in ihnen verschränken sich Dimensionen von Wissen, Narration und Erfahrung auf paradigmatische Weise zu mehrwertigen Chiffren, mit denen sich immer verschiedenste Dinge simultan artikulieren lassen. Ihre große Ähnlichkeit besteht in der strukturellen Rolle, die sie als Artikulationsformen von Erschöpfung im kommunikativen Gefüge ihrer Zeit jeweils eingenommen haben. Sowohl Neurasthenie als auch Burnout wurden als Ausdruck einer Erschöpfung vorgestellt, die als Reaktion auf gesellschaftliche, ökonomische und politische Wandlungsprozesse, neuartige Anforderungen und akute Belastungen gedeutet wurden. Zugleich haben sich beide als sprachliche Label tief in die Selbstdeutungs- und Selbstwahrnehmungsmuster der Zeitgenossinnen eingeschrieben, und sich dabei als hervorragend eingepasst in die Diskurse, Themen und Topoi ihrer Gegenwart erwiesen. Im Hinblick auf die inhaltliche, sprachliche und symbolische Ausgestaltung dieser strukturellen Rolle zeigen sich folglich große Unterschiede. Erst vor dem Hintergrund dieser tiefen Eingebundenheit in ihre jeweilige historisch-kulturelle Umgebung zeichnet sich ihr besonderes sozialkritisches Potential ab – das Potential nämlich auf all das, was als belastend, überfordernd und erschöpfend empfunden wird, in rezenten Denkstrukturen und zeitgemäßem Jargon hinzuweisen.