"Die EU und ihre Rolle in der Welt von morgen"
Prof. Günter Verheugen, Staatsminister a.D. und ehemaliger EU-Kommissar, spricht über Herausforderungen und Perspektiven der Europäischen Union / Vortrag am 1. Juni 2012, 18:00 Uhr, in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz
Alle Welt spricht in diesen Tagen von Europa. Angesichts einer oft lautstarken und nicht selten stark vereinfachenden Debatte über Eurobonds, Rettungsschirme, Transferunion oder Euro-Austritt ist es notwendiger denn je, die Geschichte des europäischen Integrationsprozesses zu verstehen, um sich über die Zukunftsperspektiven für ‚Europa’ zu verständigen. Dieser Debatte sieht sich die Mainzer Stresemann-Gesellschaft e.V. verpflichtet, die einen der maßgeblichen europapolitischen Köpfe in Deutschland und zugleich einen hochrangigen Praktiker der europäischen Ebene, Prof. Günter Verheugen, gewinnen konnte, der im Rahmen der Stresemann-Rede 2012 die Hintergründe und Zukunftsperspektiven der Europäischen Union ebenso facetten- wie kenntnisreich beleuchtete. Prof. Verheugen, der als langjähriges Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, als Staatsminister im Auswärtigen Amt und vor allem als deutscher EU-Kommissar den europäischen Integrationsprozess maßgeblich mitgestaltete, konstatierte zunächst Führungs- und Strategielosigkeit auf europäischer Ebene. Die zentrale Begründung des europäischen Integrationsprozesses, den Frieden in Europa zu sichern, beschrieb er als nach wie vor gültig. Da die gemeinsame Euro-Währung unauflöslich mit dem europäischen Binnenmarkt verbunden sei, stimme der Satz der Bundeskanzlerin: scheitert der Euro, scheitert Europa. Jedenfalls sieht er Europa vor großen Gefahren und mehr noch: vor großen Herausforderungen.
Entscheidend ist, so Verheugen, die Herausprägung einer neuen Weltordnung mit einer neuen Gruppe von Führungsmächten, die mit globalen Herausforderungen vom Klimawandel über Massenvernichtungswaffen und Terrorismus bis hin zu religiös oder kulturell geprägten Konflikten konfrontiert sein würden. Die europäischen Nationalstaaten seien dem alleine nicht gewachsen, und ohne eine neue Form intensiver Zusammenarbeit drohe Europa die ‚Gefahr der Marginalisierung‘ im weltpolitischen Maßstab. Die bestehende europäische Ordnung verhindere allerdings gemeinsame und dauerhaft verlässliche Entscheidungsstrukturen. Die europäische Handlungsfähigkeit müsse sich sowohl in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, als auch auf wirtschaftlicher Ebene abbilden. Die Qualitäten der EU als wichtiger Handelspartner in der Welt und als größter Geber von Wirtschafts- und Entwicklungshilfe, der zugleich erfahren sei als Akteur zur Begleitung friedlicher Transformationsprozesse nach demokratischen Maßstäben, müssten ergänzt werden durch eine Fähigkeit zur hard power, um das Gewicht der EU im politisch-diplomatischen Prozess zur Geltung zu bringen.
Als Grundlagen und Voraussetzungen zur globalen Interessenvertretung Europas benannte Prof. Verheugen drei Elemente: politische Handlungsfähigkeit, wirtschaftliches Gewicht und wettbewerbsfähige Größe.
Dabei entwarf er ein Konzept zur politischen Reform Europas, an deren Ende die Handlungsfähigkeit einer EU stehen würde, die hinsichtlich ihrer Grenzen nicht dogmatisch festgelegt, also auch für die Türkei offen sein solle. Der bestehende ‚Souveränitätspool‘ in der EU müsse ausgebaut werden. Als gangbaren Weg beschrieb Verheugen eine Kombination aus voller Parlamentarisierung der EU, die zum europäischen Bundesstaat aufwachsen würde, und konsequenter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Einen weitergehenden Transfer nationalstaatlicher Hoheitsrechte in eine exekutiv-dominierte EU ohne massive Stärkung demokratischer Strukturen auf europäischer Ebene lehnte er (hierin in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht) ab und forderte einen gleichzeitigen ‚Abbau der Überregulierung‘ vor allem im Bereich der Normierung des europäischen Binnenmarktes, während die Mitwirkung der europäischen Mitgliedsstaaten sichergestellt werden müsse.
Um das wirtschaftliche Gewicht und eine wettbewerbsfähige Größe der EU herzustellen, plädierte Verheugen für die Ergänzung der Währungsunion um Elemente einer europäischen wachstumsorientierten Politik, konkret: für eine durch den Fiskalpakt flankierte Transferunion. Die Probleme und Risiken einer gemeinsamen europäischen Währung seien von Anfang an bekannt gewesen, und das bail-out-Verbot habe nicht funktioniert. Stattdessen seien die Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften weiter gewachsen. Ansonsten drohe eine Desintegration der Europäischen Union mit großen Risiken nicht nur für das Europa der Gegenwart und der Zukunft, sondern auch für die Welt.
Die lebhafte, von Prof. Rödder moderierte Diskussion im Anschluss an Verheugens Grundsatzvortrag stellte unter Beweis, wie wichtig die europapolitische Grundsatzdebatte ist. Denn dass sie in der deutschen Öffentlichkeit ebenso wie in anderen Ländern kaum je geführt wurde, zählt zu den zentralen Versäumnissen der europäischen Integrationsgeschichte. Die Stresemann-Gesellschaft ist daher dankbar, dass es ihr gelungen ist, mit dem sehr gut besuchten und mit großem Applaus bedachten Vortrag von Günther Verheugen einen Beitrag zu dieser außen- und europapolitischen Selbstverständigung zu leisten, derer die politische Öffentlichkeit so dringend bedarf.