Kriegswahrnehmung und Kollektivbiographie

Referenzrahmen von Wehrmachtssoldaten 1942 - 1945

gefördert von der

Dieses von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Forschungsprojekt dient der Erarbeitung einer Monographie über die Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht. Es basiert auf dem neu entdeckten Aktenbestand aus dem US-Verhörlager Fort Hunt, in dem von 1942 bis 1945 rund 3000 deutsche Kriegsgefangene befragt und belauscht wurden. Der mehr als 100.000 Seiten umfassende Aktenbestand öffnet neue Zugänge zur Geschichte der Wehrmacht und ihrer Soldaten.

Wie dachten die Soldaten der Wehrmacht, vom einfachen „Landser“ bis zum General, über den nationalsozialistischen Krieg, den sie von 1939 bis 1945 führten? Die bisherige Forschung zur Mentalitätsgeschichte der Streitkräfte des „Dritten Reichs“ musste lange mit schonenden Feldpostbriefen, verstreuten Tagebüchern und verklärenden Memoiren auskommen. Nun aber steht ein neu entdeckter Quellenbestand zur Verfügung, der bislang einzigartige Einblicke in die Befindlichkeiten der Wehrmachtssoldaten gewährt.

Dieses Material stammt aus dem geheimen Vernehmungslager Fort Hunt bei Washington, in dem der US-Militärnachrichtendienst von 1942 bis 1945 insgesamt rund 3000 deutsche Kriegsgefangene internierte, um sie zu befragen und in ihren Zellen über versteckte Mikrophone heimlich abzuhören. Das Ergebnis dieser Lauschangriffe war ein Quellenbestand von über 100.000 Seiten, der in den US National Archives in College Park bei Washington seit den 1970er Jahren frei zugänglich war. Für das Fritz Thyssen-Forschungsprojekt „Referenzrahmen des Krieges“ wurde dieser Bestand nun vollständig digitalisiert und erschlossen.

Die Aktenserie besteht aus den alphabetisch geordneten Gefangenendossiers, die der amerikanische Military Intelligence Service (MIS) über jeden einzelnen der internierten Wehrmachtssoldaten anlegte. In diesen Heftmappen sammelte der MIS sämtliche Unterlagen, die zu den Gefangenen im Verlauf ihrer Internierung in Fort Hunt angefertigt wurden. Zu den Bestandteilen dieser Akten gehören sowohl Abhörprotokolle und Vernehmungsberichte als auch Formulare über die biographischen Daten der Soldaten, politische Meinungsumfragen und vieles mehr.

Der hohe Quellenwert der Abhörprotokolle aus Fort Hunt liegt in der schonungslosen Offenheit, mit der sich die Wehrmachtsangehörigen über die brisantesten Themen austauschten. Weder vorher noch nachher gab es eine vergleichbare Situation, in der sich die Soldaten so rückhaltlos über ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus, den Krieg, die Kriegsverbrechen und ihre eigenen Erfahrungen auf den Schlachtfeldern äußern konnten.

Einen neuen Zugang zur Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht ermöglicht der Quellenbestand aus Fort Hunt auch dadurch, dass er zu jedem der abgehörten Wehrmachtssoldaten umfangreiche lebensgeschichtliche Daten bereithält. Dies ermöglicht erstmals, auf breiter Basis zu untersuchen, inwieweit die Befindlichkeiten der Wehrmachtsangehörigen mit ihren Biographien zusammenhingen. Hatte also die Art und Weise, wie die Soldaten den Krieg erlebten, wie weit ihre Loyalität zum Regime reichte und welche Haltung sie zur verbrecherischen Kriegführung einnahmen, etwas mit ihrem Alter, ihrer sozialen Herkunft oder ihrer Bildung zu tun? Oder ebneten das Militär und der Krieg solche Unterschiede weitgehend ein?

Das Projekt wird von der Fritz Thyssen Stiftung mit einem Forschungsstipendium und umfangreichen Sachmitteln gefördert. Es steht unter der Leitung von Prof. Dr. Sönke Neitzel und Prof. Dr. Harald Welzer. Das Projekt wird von Dr. Felix Römer bearbeitet.