„Popular Conservatism“ in England. Plebejischer Konservatismus in Politik, Alltags- und Festkultur, ca. 1815 – 1867.

(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft)
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
erscheint Mitte 2009

Zusammenfassung

Warum kommt es in England im 19. Jahrhundert zu keiner Revolution? Seit vielen Jahrzehnten diskutieren Historiker über die im europäischen Vergleich bemerkenswerte Stabilität der englischen Gesellschaft. Sie stehen dabei vor einem doppelten Problem: Einerseits können sie in England früher als in anderen europäischen Staaten eine starke Arbeiterbewegung beobachten, die gemeinsam mit den englischen Liberalen Forderungen nach demokratischen Reformen erhob und dabei auch revolutionäre Vorstellungen entwickelte. Andererseits kommt es trotz einer vor allem in den Jahren 1820 bis 1850 scheinbar hochpolitisierten und radikalen Bevölkerung nicht zu einer Revolution, und eine Partei der Arbeiterbewegung entsteht in England später als in anderen europäischen Staaten.
In den letzten 20 Jahren haben Studien zur politischen Kultur versucht, diese Widersprüche über die Komplexität sozialer und politischer Identitätsbildung innerhalb der Unterschichten zu erklären. Anders als ältere sozialhistorische Arbeiten hoben sie die Eigenständigkeit des Politischen hervor und bestritten, dass sich soziale Vorstellungen und Identitäten relativ unvermittelt aus sozialen Konflikten und ökonomischen Gegensätzen entwickeln. Sie verwiesen dabei auf eine lange dominante Tradition des englischen Liberalismus und Radikalismus, der auch die frühe Reformbewegungen aus der Arbeiterschaft prägte. Soziale Ungerechtigkeit wurde in dieser Tradition als Folge der fehlenden politischen Integration weiter Teile der Bevölkerung verstanden. Gesellschaftliche Veränderungen sollten durch politische Reformen wie die Ausweitung des Wahlrechts und die Gewährung bürgerlicher Freiheiten erstritten werden. Forderungen nach sozialen Reformen traten vor diesem Hintergrund zurück, und eine radikale Arbeiterschaft konnte bis ins späte 19. Jahrhundert in die liberale Bewegung integriert werden.
Die Dissertation schließt an solche Erklärungen an und erweitert sie zugleich. Sie argumentiert, dass es neben einer langen Tradition des Radikalismus auch eine lange Tradition des Konservatismus gab, die erhebliche Teile der englischen Unterschichten beeinflusste und zur Stabilität der englischen Gesellschaft beitrug. In einer vergleichenden Lokalstudie untersucht sie lokale Wahlkämpfe und politische Auseinandersetzungen auf den untersten politischen Ebenen, frühe Ansätze zur Integration von sozialen Gruppen aus den Unterschichten in die konservative Parteiorganisation sowie Feste und Rituale, in denen sich politische Haltungen und Mentalitäten der breiten Bevölkerung beobachten lassen. Sie verweist dabei auf die Existenz eines „Konservatismus von unten“, der um die Popularität der Monarchie, einem loyalistischen Patriotismus und ein Verständnis Englands als protestantischer Nation kreiste. Mit diesen Vorstellungen ließen sich antikatholische Haltungen und ein Ideal von sozialer Gerechtigkeit verbinden, das nicht soziale Gleichheit verlangte, sondern von sozialen Eliten forderte, dass diese für angemessene Lebensbedingungen der einfachen Bevölkerung sorgten. Im Rahmen der Untersuchung können dabei sowohl bekannte, aber bisher wenig in die langen Linien der englischen Geschichte integrierte Phänomene wie antikatholische Ausschreitungen als auch kaum bis gar nicht erforschte Entwicklungen wie die frühen konservativen Arbeitervereine verknüpft werden, um ein zu einseitiges Bild der politischen Vorstellungen innerhalb der englischen Unterschichten um eine konservative Dimension zu erweitern.