Die verschiedenen Konzeptionen von Bildung im westdeutschen Diskurs und ihr politischer Niederschlag in der Zeit der Bildungseuphorie (1963-1975)
Abstract
Als ab 1963 das Thema Bildung in Deutschland politische Bedeutung erlangte, geschah dies in politischer Debatte und politischem Handeln nicht als gleichförmiger Diskurs, sondern in verschiedenen Ausprägungen. Das Dissertationsprojekt soll nicht nur die Verschiedenheit der einzelnen Diskursformationen nachweisen, sondern den Gesamtdiskurs gleich strukturieren und die Relevanz der einzelnen Segmente im politischen Handeln bestimmen.
As education surfaced abruptly after 1963 as an important political topic in Germany, not a unique discourse, but a variety of discourse formations were relevant in the debate and decision making processes. Not only proving this diversity as opposed to a previously assumed common tendency, this project will also show the internal structures of the discourse and its segments as it will determine the relevance of each upon political action.
Projektskizze
Bildungsreformen kennzeichnen den gesellschaftlichen Wandel der späten sechziger und frühen siebziger Jahre in der Bundesrepublik, die Debatte darum umfasst wenige Jahre mehr. Dabei kamen nicht nur gleichförmige Aussagen zur Reform des Bildungswesens zustande, sondern ein breites und wissenschaftlich dringend zu differenzierendes Feld an verschiedenen Auffassungen dessen, was Bildung sei und wozu die Schule diene, verbunden mit entsprechenden politischen Forderungen. “Bildung!” war die Parole der Zeit - “Welche Bildung?” war damit aber noch nicht beantwortet.
Dieses Dissertationsvorhaben schließt die Lücke einer umfassenden Strukturanalyse des Bildungsdiskurses in politischer Debatte und politischem Handeln während der Zeit der Bildungseuphorie (1963-1975). Der Diskurs um die Zukunft des Deutschen Bildungswesens wird zwischen seinem jähen Aufbranden ab 1963 und einem zähen Gerinnen ab den frühen Siebzigern nach inhärenten Kriterien, also im Prinzip den Verschiedenheiten im Bildungsbegriff selbst, strukturiert.
Diese Arbeit bestimmt also alle Aussagen in Bezug auf das Objekt der Bildung im politischen Kontext als Diskurs und strukturiert die innerhalb dieses Diskurses gefundenen unterschiedlichen Konzeptionen von Bildung als einzelne Diskursformationen innerhalb des Gesamtdiskurses. Dabei wird nicht die Breite, sondern lediglich eine interessierte Teilöffentlichkeit berücksichtigt. Die Fragestellung der Arbeit lautet somit:
Wie war der Bildungsdiskurs der sechziger und siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland strukturiert:
o welche Diskursformationen prägten sich in der politischen Debatte aus,
o wie standen sie zueinander und wie setzten sie sich im politischen Handeln durch?
Zur Beantwortung dieser Fragen werden im ersten Teil dieser Arbeit publizierte Quellen aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft nach jeweiligen Argumentationsmustern, den ihnen unterliegenden Grundsätzen, Weltanschauungen und Werten und den daraus abgeleiteten politischen Forderungen ausgewertet.
Dabei ergeben sich nach derzeitigem Stand sechs unterschiedliche Konzeptionen von Bildung:
Die Bewegung zugunsten Emanzipation und Chancengleichheit lässt sich einerseits in eine individualrechtlich-emanzipative Konzeption aufteilen, die es dem Einzelnen ermöglichen wollte, sich aus seinen sozialen Zwängen zu befreien, sein Potential zu entfalten und damit zu autonomeren Entscheidungen zu gelangen; und andererseits in eine gesellschaftlich-emanzipative Konzeption von Bildung, die die Gesellschaft als Ganzes betrachtete und in eine insgesamt emanzipiertere Richtung verändern wollte.
Dieser Ideologisierung enthoben sich – zumindest vordergründig – zwei weitere Diskursformationen, die sich stark am Wissenschafts- und Machbarkeitsglauben der Zeit orientierten. Im einen Fall handelte es sich um eine Bedarfskonzeption, die empirisch den gegenwärtigen und Zukünftigen Bedarf der Gesellschaft an bestimmten Qualifikationen festlegen und Bildung danach organisieren wollte. Im anderen Fall zielte der wissenschaftliche Zuschnitt einer szientistischen Konzeption von Bildung auf die effiziente Förderung des Einzelnen nach seiner individuellen Begabung und seinen Bedürfnissen in der Bewältigung seiner Lebensumstände durch wissenschaftliche Kompetenzen ab.
Konservativere Ansätze sind einerseits eine die Fortschreibung und Erneuerung Neuhumanistischen Gedankenguts, andererseits die Bewältigung einer veränderten Welt durch die Erhaltung tradierter Werte und ihrem Bezug auf die Bedingungen der Zeit.
In der Realpolitik schlugen sich diese unterschiedlichen Ansätze nieder, wobei gesagt werden kann, dass sich kein einzelnes politisches Vorhaben, erst recht nicht die gesamte Bildungspolitik auch nur einer Regierung unter einem oder zwei dieser Ansätze zusammenfassen ist. Um dies zu demonstrieren, werden in einem zweiten Teil der Arbeit exemplarisch die Bildungspolitik der Länder Bayern und Hessen während des Betrachtungszeitraums auf die Anteile der einzelnen Diskursformationen in den unterliegenden Begründungszusammenhängen untersucht. Zwischen den bildungspolitischen Teilen im „Großen Hessenplan“ und den „Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre“ im SPD-geführten Hessen, zwischen der zähen Einführung der „Christlichen Gemeinschaftsschule“ bis zu den „Curricularen Lehrplänen“ in Bayern treten die verschiedensten Motive auf. Um hier auf den Grund der unterliegenden Konzeptionen zu stoßen, werden die internen Diskurse der Ministerin und ihnen zugeordneten Behörden untersucht; hierbei werden auch die Durchlässigkeit zur interessierten Teilöffentlichkeit sowie Begründungszusammenhänge, die komplett außerhalb des eigentlichen Bildungsdiskurses liegen offenbar.
Die Bildungseuphorie und ihre politischen Auswirkungen können nicht mehr nur in einer generellen Tendenz, sondern müssen künftig auch in der Vielfalt ihrer Ausprägungen begriffen werden. Diese Arbeit wird eine grundsätzliche Differenzierungsleistung für die Geschichte dieser Periode darstellen, explizit im für diese Zeit so bedeutenden, aber bislang recht eindimensional gefassten Politikfeld ‚Bildung‘ und implizit als Beispiel für das Vorhandensein sehr differenzierter Diskurse in einer oft dichotomisch beschriebenen Zeit.
Dass hier Bildungsgeschichte aus Sicht und mit Methoden der Geschichtswissenschaften geschrieben wird, ist ein weiteres relevantes Merkmal – wenn auch glücklicherweise kein Alleinstellungsmerkmal mehr – für den Betrachtungszeitraum, zu dem bislang vor allem Literatur aus Sicht der Pädagogik und der Sozialwissenschaften zu finden ist.
Kontakt: Johannes Knewitz