Arbeistwerte im Spiegel von Migrationsdiskursen in der Bundesrepublik Deutschland (1950-2000)
Das Dissertationsprojekt „‚Gastarbeiter fleißiger als Deutsche?‘ Arbeitswerte im Spiegel von Migrati-onsdiskursen in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1993)“ problematisiert die sozialwissenschaftliche These des Wandels von materialistischen Pflicht- und Akzeptanzwerten zu postmaterialistischen Freiheits- und Selbstentfaltungswerten. Dabei verbindet es die historische Erforschung von Werten mit der Perspektive der Historischen Migrationsforschung, wodurch ein doppeltes Forschungsdesiderat sichtbar wird: Zum einen muss die Geschichtswissenschaft den Wandel von Werten und Einstellungen in der Arbeitswelt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt in den Blick nehmen. Zum anderen hat die Historische Migrationsforschung die Einwanderung von „Gastarbeitern“ und ihre Wahrnehmung durch die westdeutsche Gesellschaft bisher noch nicht in den Prozess des Wertewandels eingeordnet. Daher greift das Dissertationsprojekt die Frage auf, was veränderte Wahrnehmungen der Aufnahmegesellschaft von Migranten über Wertewandelsprozesse in der Arbeitswelt der Bundesrepublik verraten.
Ziel des Teilprojekts ist es also, Arbeitswerte im Spiegel von Migrationsdiskursen zu untersuchen. Dadurch soll die Frage beantwortet werden, wann, wie und warum sich die diskursiv verhandelten Arbeitswerte zwischen 1950 und 1993 in der Bundesrepublik Deutschland veränderten. Diese Fragestellung wird unter einer doppelten Perspektive bearbeitet: Zum einen soll geklärt werden, was veränderte Wahrnehmungen von Migranten über Wertewandelsprozesse in der Mehrheitsgesellschaft aussagen. Die zentrale Annahme ist dabei, dass die Wahrnehmungsweisen des „Fremden“ und die Wertzuschreibungen in den Migrationsdiskursen ganz spezifische Rückschlüsse auf das „Eigene“, auf die arbeitsbezogenen Werthaltungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft erlauben. Zum anderen soll untersucht werden, wie gesellschaftliche Werte an Migranten vermittelt und diese selbst gesellschaftliche Wertvorstellungen im Bereich der Arbeit diskursiv beeinflussen konnten. Möglich ist dies durch den Einbezug der Gewerkschaften. Denn diese haben hinsichtlich der Aushandlungsprozesse von Arbeitswerten die doppelte Funktion, einerseits diskursiv verhandelte Wertvorstellungen über Arbeit durch die gewerkschaftliche Praxis an Migranten weiter zu geben, andererseits als Ort der wirtschaftlichen und sozialen Interessenvertretung der Migranten zu dienen. Hier artikulieren sich ihre Vorstellungen von Arbeitsbedingungen, Löhnen, Arbeitszeit und Mitbestimmung.
Die Fragestellung wird also auf zwei Ebenen untersucht: Auf der Ebene der bundesdeutschen Auf-nahmegesellschaft wird insbesondere gefragt, was veränderte Wertzuschreibungen an Migranten im öffentlichen Diskurs über den Wandel von Wertvorstellungen in der Aufnahmegesellschaft aussagen und welche Akteure dabei mit welchen Einsätzen spielten. Die Ebene der Gewerkschaften soll Auskunft darüber geben, welche Arbeitswerte Gewerkschaften versuchten, an ihre migrantischen Mitglieder zu vermitteln und in welchem Zusammenhang die Wertvermittlung mit den im gesellschaftlichen Diskurs dominierenden Arbeitswerten stand.
Zur Beantwortung der Fragestellung werden Debatten über Migration als Fallbeispiele untersucht. Eine wichtige Rolle spielen dabei die mentalen Prägungen durch die Erfahrung der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg, die in einem Vorkapitel intensiv aufgearbeitet werden sollen. Methodisch orientiert sich das Projekt an der von Michel Foucault inspirierten Historischen Diskursanalyse. Damit möchte das Projekt rekonstruieren, welche Diskurse sich in den Debatten über Migration unterscheiden lassen, welche Wertvorstellungen über Arbeit sie angeboten haben, wie diese in die Diskurse eingewoben waren und welche materiellen Auswirkungen sie zeitigten. Die Ergebnisse der Diskursanalyse werden anschließend in die soziale Praxis und die institutionellen Rahmenbedingungen der Arbeitswelt eingebettet, um den historischen Wandel von Werten beschreiben und Aussagen über kausale Wechselwirkungen treffen zu können.
Für die Ebene der Aufnahmegesellschaft werden Quellen des Hoch- und Breitendiskurses herangezogen. Dazu gehören die überregionale Qualitätspresse, die Aktenüberlieferung wichtiger, sich als Werte setzend verstehender Akteure sowie ausgewählte Quellen des Breitendiskurses, wie z.B. die Berichterstattung des Boulevards. Die Ebene der Wertvermittlung in den Gewerkschaften und die Ebene der Migranten wird hauptsächlich mittels der Publikationen und der Aktenüberlieferung des DGB, der IG Metall und der IG Bergbau und Energie rekonstruiert.
Kontakt: Sebastian Seng
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