Der Wert des altsprachlichen Unterrichts im deutsch-englischen Vergleich 1920-1980
Die Idee des folgenden Dissertationsvorhabens beruht auf Erkenntnissen einer Abschlussarbeit, die sich mit bildungspolitischen Diskursen um die Entwicklung des Altsprachlichen Unterrichts von 1955 bis 1972 befasste. Dabei konnte festgestellt werden, wie eng in der Bundesrepublik Deutschland die Bedeutung des Altsprachlichen Unterrichts mit den jeweiligen bildungspolitischen Leitvorstellungen einer Gesellschaft zusammenhingen. Die Vorstellungen eines „christlichen Humanismus‘“ (Gass-Bolm, Das Gymnasium, Göttingen 2005) in den 1950er Jahren mit seinem Leitmotiv vom „christlichen Abendland“ (Schildt, Abendland, München 1999) und einer Vorstellung von Elitenerziehung hatte vor allem dem Lateinunterricht als „Muttersprache des Abendlandes“ große Bedeutung beigemessen und den öffentlichen Diskurs bestimmt. Im Zuge der Bildungsexpansion der 1960er Jahre verschwanden diese beiden Motive Elite und Abendland jedoch vollkommen aus der öffentlichen Diskussion. Chancengleichheit und individuelle Förderung lauteten die neuen Schlagworte. Vor allem das Fach Latein, das als „Ausleseinstrument“ in den 50er Jahren dem Motiv der Elitenbildung Rechnung getragen hatte, geriet gerade deshalb unter starken Legitimationsdruck, die alten Sprachen innerfachlich gar in eine „Sinnkrise“ (Latacz, Reflektionen, Stuttgart 1965).
Eine Entwicklung, die sich parallel dazu erkennen lässt, deren kausaler Zusammenhang bisher aber nur vermutet werden kann, ist eine inhaltliche Veränderung des Begriffes der humanistischen Bildung: Humanistische Bildung, die traditioneller Weise mit den alten Sprachen in eins gesetzt worden war, löste sich zunehmend aus dieser Verschränkung. Allen Fächern wurde die Eigenschaft zugeschrieben, humanistisch zu sein und so wurde gymnasiale Bildung, ja Bildung generell, per se humanistisch. Denn das humanistische Grundprinzip – die Herausbildung eines kritischen Bewusstseins durch Bildung, die es dem Menschen ermöglichen sollte, eigenständige Entscheidungen zu treffen – hatte nach wie vor Hochkonjunktur. Nur konnte der altsprachliche Unterricht diese Bildungswirkung nicht mehr erfüllen: Der dafür notwendige Lektüreunterricht wurde durch die Reduzierung der Wochenstunden oder durch die Möglichkeit des vorzeitigen Abwählens selten erreicht. So mussten sich die Fachvertreter überlegen, welche anderen Bildungsmöglichkeiten die alten Sprachen zu bieten hatten, um – es klingt paradox – auch wieder als humanistisch zu gelten.
Diese Beobachtungen regten zu weiterführenden Fragen an. Vor allem die sich ändernde inhaltliche Füllung des humanistischen Bildungsideal steht im Fokus des Interesses und so lautet die übergeordnete Fragestellung des Projekts: Was wurde unter humanistischem Bildungsideal unter sich verändernden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verstanden? Um diese Frage beantworten zu können, soll ein langer Untersuchungszeitraum in den Blick genommen werden, der sich von den 1920ern bis in die 1980er Jahre erstreckt. Nur in einem Längsschnitt kann der lange Prozess von Kontinuität und Wandel nachvollzogen werden, zumal nur so politische, wirtschaftliche und kulturelle Brüche erfasst werden können. Zum anderen soll anhand eines internationalen Vergleichs versucht werden, die Besonderheiten des deutschen Bildungspolitischen Diskurses herauszustellen. So ergeben sich folgende Leitfragen:
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- Was wurde unter humanistischem Bildungsideal unter sich verändernden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verstanden?
- Welche gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung wurde dem Wert der humanistischen Bildung im öffentlichen Diskurs während von 1920-1980 in der Bundesrepublik Deutschland und in England zugemessen
- In welcher Wechselbeziehung standen Humanismus und altsprachlicher Unterricht?
- Wann wurde die humanistische Bildung mit der altsprachlichen Bildung gleichgesetzt?
- Wann löste sich diese Gleichsetzung auf und mit welchem Sinngehalt wurde humanistische Bildung dann gefüllt?
- Handelt es sich dabei um eine spezifisch deutsche Entwicklung oder lassen sich ähnliche Entwicklungen in England finden?
- Haben solche ideellen Vorstellungen Einfluss auf politische Entscheidungen wie Stundentafeln, Schulreformen und Lehrpläne?
- Welche Rolle spielt dabei die dominierende Konfession?
Um den langen Untersuchungszeitraum bändigen zu können, erfolgt eine Orientierung an spezifische Fallbeispiele. Hierbei wird sich an Reformen und Reformvorschlägen orientiert, die den altsprachlichen Unterricht direkt betrafen oder eine Veränderung der Bildungskonzeption anzeigen. Reformen als Wegmarken zu wählen scheint sinnvoll, da sie Ausdruck von gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Veränderung sind und meist Anlass zu kontroversen Diskussionen boten.
Das Dissertationsprojekt will also ideelle Bildungsvorstellungen in ihrem Entwicklungsprozess beschreiben und deren Einfluss auf die Bildungspolitik rekonstruieren. Sie ist somit ein Beitrag zur Bildungsgeschichte und zur Historischen Semantik von humanistischer Bildung, zu Frage nach Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert, vor allem aber ein Beitrag zur Historischen Wertewandelsforschung im Bereich Wert der Bildung.
Kontakt: Anna Kranzdorf
E-mail: kranzdorf@uni-mainz.de